Leben im Jahresrhythmus nach Waldorf-Art

Leben im Jahresrhythmus – was bedeutet das? Was gehört dazu? Was steckt dahinter? Warum ist das in Waldorfeinrichtungen wichtig? Was haben wir und unsere Kinder davon? Wie trägt das Leben im Jahresrhythmus zu unserem persönlichen Wachstum bei? In diesem Beitrag findest Du Antworten auf diese Fragen.

Der Jahreskreis und Waldorf

Das Leben in Rhythmen bzw. Kreisläufen ist in der Waldorfpädagogik ja von zentraler Bedeutung. Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen werden gleichermaßen gelebt. Hinsichtlich des Jahresrhythmus bedeutet das, dass die Themen, Kräfte, Bräuche und Impulse des Jahreslaufs und der Jahreszeiten aufgegriffen und zelebriert werden.

Das geschieht in mehreren Dimensionen:

  1. Dimension: Die jahreszeitliche Natur wahrnehmen, in ihr und mit ihr sein
  2. Dimension: Typische Tätigkeiten der Jahreszeit verrichten, Brauchtum leben
  3. Dimension: Die Räume jahreszeitlich gestalten
  4. Dimension: Die jahreszeitlichen Feste feiern
  5. Dimension: Die Energien der Jahreszeit im eigenen Inneren aufspüren und bewegen.

Das Leben im Jahreskreis schenkt uns eine Verbindung zur Natur und ihren zyklischen Prozessen.

Wenn wir anfangen, uns dem Kreislauf der Natur wieder zu nähern, kann es gelingen, die Verbundenheit mit der Natur und dem Leben wieder deutlicher zu spüren. Wir können uns die Energien der Natur zu Nutze machen, um unsere innere Lebendigkeit wieder zu entdecken. Wir können alten Traditionen wieder Leben und Bedeutung einhauchen. Das verbindet uns miteinander, mit dem Leben und der Natur und verleiht unserem Tun Sinn. Wir unterstützen gleichzeitig unser persönliches inneres Wachstum und genießen Schönheit und Lebensfreude.

Kinder schenken wiederkehrende Rituale im Jahreskreis Spaß und Freude, aber auch Sicherheit, Hoffnung, Gewissheit und Orientierung. Dazu unten mehr.

Zur 5. Dimension: Jahreszeiten und Selbstentwicklung

Zuerst ein paar Worte zur am schwierigsten verständlichen Dimension, der letzten oben genannten: dem Aufspüren und Bewegen von jahreszeitlichen Energien in der eigenen Seele oder in der Selbst-Entwicklung. Die anderen vier Dimensionen (Naturerleben, Bräuche/Tätigkeiten, Raumgestaltung und Feste) verstehen sich ja von selbst. — Wobei auch die Feste und die Gestaltung der Räume Bedeutungen bergen können, auf die man nicht gleich kommt… dazu mehr in meinen Beiträgen zu den Festen und den einzelnen Monaten.

Die Energien der Jahreszeiten als Impulse für die eigene Seele nutzen

Ich lebe seit vielen Jahren bewusst mit und in den Jahreszeiten und versuche, ihre Kräfte als Impulse für meine “innere Arbeit” zu nutzen. Deswegen ist es mir auch so wichtig, von Natur umgeben zu sein. Dazu schaue ich mir die Naturvorgänge der aktuellen Jahreszeit genau an, empfinde die Naturstimmungen und versuche zu verstehen, was diesen Vorgängen energetisch zugrunde liegt. Dann versuche ich, ähnliche Vorgänge in mir (meiner Seele, meinem Inneren) zu erspüren. Diese Vorgänge bewege und unterstütze ich dann in dieser Zeit besonders.

Das klingt hier jetzt kompliziert und vielleicht auch esoterisch, aber eigentlich ist es ganz einfach:

Ein Beispiel wäre, dass ich im Frühling und frühen Sommer versuche, eher dem Wachstum und neuen inneren Entwicklungen Raum zu lassen. Im Winter reflektiere ich tendenziell mehr und gönne mir mehr Ruhe. Das heißt nicht, dass ich im Winter keinen neuen Ideen nachgehen darf und mir im Sommer keine Ruhe gönne. Es geht um Schwerpunkte, die ich zu bestimmten Zeiten für mich setze. Ich achte mehr auf das, was im geist der Jahreszeit steckt.

Ich genieße es sehr, mich mit den Jahreszeiten so auf einer tieferen Ebene zu verbinden. Aber auch liebe ich die typischen Tätigkeiten der Jahreszeiten, den Aufenthalt in der Natur, das Sammeln und Verwerten von Pflanzen, das Basteln und Gestalten, das Wiederentdecken und Neu-Ergreifen von alten Bräuchen und das Feiern der jahreszeitlichen Feste. Das alles gehört für mich zusammen.

Alte Rhythmen wieder entdecken

Dass die Tätigkeiten, Themen und Schwerpunkte im Jahreskreis sich je nach Jahreszeit unterschieden, war früher im bäuerlichen Leben ganz natürlich. Im Sommer wurde hart gearbeitet, man war viel draußen und körperlich aktiv, im Winter saß man mehr in der Stube.

Im Frühling wurde gesät, man freute sich über das zunehmende Licht und die ersten grünen Triebe, die wieder frische Vitamine brachten.

Im Sommer kamen die Wärme, die Freude, das Wachsen und Gedeihen, und ab dem Juni das Mähen und die Ernte.

Im Herbst wurde geerntet und eingebracht, verarbeitet, gedörrt, eingekocht und der Winter vorbereitet. Die Tiere, die den Winter nicht überleben würden, wurden geschlachtet.

Im Winter kam man körperlich zur Ruhe, war viel drin, erholte sich, atmete aus. Natürlich waren die Menschen auch im Winter aktiv, sie reparierten, stopften, webten und strickten. Man plante und baute, heizte und kochte. Man sang neben der stillen Arbeit und lauschte Geschichten.

Ich bin überzeugt, dass diese uralten Rhythmen uns auch heute noch gut tun, auch wenn wir heutzutage rund ums Jahr Licht und Wärme haben, sich die Arbeit im Sommer bei vielen Menschen nicht groß von der im Winter unterscheidet, und die eigentlichen Bedeutungen vieler Bräuche in unserer materialistisch geprägten Welt verloren gegangen sind. Ich finde, es lohnt sich total, sich all dem wieder zu nähern.

Trotz modernem Leben die Energien des Jahreslaufs nutzen

Wir können (und wollen) als moderne Menschen ja nicht zum bäuerlichen Leben im Jahreskreis zurückkehren. (Naja, manche schon, aber das Leben als Bauer/Bäuerin, Selbstversorger*in oder Aussteiger*in ist schließlich nicht jedermanns bzw. jederfraus Sache).

Aber auch uns modern lebenden Menschen ist es möglich, uns wieder mit dem uralten Jahresrhythmus zu verbinden. Man kann die Natur und die alten Bräuche der Menschen anschauen und danach fragen, welche Energien, Kräfte und Themen dahinter stecken. Und diese dann auf andere Weise wieder beleben und für uns nutzen. Hier Beispiele, wie ich das mache:

  • Der März ist zum Beispiel der Monat des Pflanzenaustriebs; hier schaue ich dann besonders darauf, welche neuen Ideen bei mir keimen und versuche, ihnen genügend Kraft und Nahrung zu geben.
  • Der August ist ein Monat der Reife – hier schaue ich zum Beispiel, welche Früchte in meinem Leben besonders schön geworden sind, welche davon ich behalten möchte und welche ich besser “abstoßen” sollte, damit die anderen besser weiterwachsen können.

(Was noch zum August passt und wie Du seine Kräfte für Deine Entwicklung nutzen kannst, kannst Du in diesem Beitrag zum August im Jahreskreis nachlesen.)

  • Diese “innere Arbeit”, die in jedem Jahr ein bisschen anders aussieht, unterstützte ich mit Tätigkeiten, die zur aktuellen Jahreszeit passen. Ich suche nach alten Bräuchen, nach Pflanzen und anderen Dingen, die man in der Jahreszeit sammeln und verwerten kann. Ich freue mich daran, unseren Jahreszeitentisch oder anderer Raumelemente zu gestalten. Und natürlich begehen wir auch die typischen Feste im Jahreslauf, die auch immer besondere Kräfte, Themen und Traditionen der Jahreszeiten in sich tragen.
  • Dem auf die Spur zu kommen, zu verstehen und nachzufühlen, ist eine wunderschöne Erfahrung.

Die Jahreszeiten in der Anthroposophie

Auch in der Anthroposophie können, ja sollen die Energien der Jahreszeiten als Impulse genutzt werden. “Waldorf” ist ja absolut nicht gleich Anthroposophie. Waldorf ist in erster Linie eine Pädagogik, die zwar von der Anthroposophie Rudolf Steiners inspiriert ist, sich aber kontinuierlich selbständig weiter entwickelt hat. Sie ist zudem mittlerweile auch standardwissenschaftlich gut untersucht und untermauert.

Anthroposophie: Seelisch-geistiger Entwicklungsweg

Die Anthroposophie Rudolf Steiners dagegen ist ein seelisch-geistiger Entwicklungsweg des Menschen, in dem der Mensch seine Seele und Geist “hin zum Göttlichen” bewegt. Dies geschieht vor allem durch Meditation bzw. geistige Erkenntnis. Das klingt jetzt hochtrabend und wird weder an Waldorfschulen noch -kindergärten praktiziert. Die wenigsten “Waldörfler”, Waldorf-Lehrer*innen und -Erzieher*innen sind auch praktizierende Anthroposoph*innen (manche aber schon).

Auch in den waldörflichen Festen und den Bräuchen im Jahreslauf finden sich Ideen aus der Anthroposophie. Diese Ideen und Bedeutungen sind aber oft sehr viel älter als die Steiner’sche Anthroposophie. Sie gründen sich letztlich in der Natur, in den Energien und Bräuchen des natürlichen Jahreskreislaufs, wie er bereits von vorchristlichen Kulturen in Europa gelebt wurde. Aber auch in den christlichen Bedeutungen der typischen Jahresfeste, die ja wiederum meist Umdeutungen der uralten “heidnischen” Feste und Bräuche sind.

Rudolf Steiner und der Jahreslauf

Rudolf Steiner hat sich in seiner Selbstreflektion und “Seelenpflege” bewusst an den natürlichen und kulturellen Energien der Jahreszeiten orientiert. Davon zeugt unter anderem der anthroposophische Seelenkalender, in dem für jede Woche des Jahres ein von Rudolf Steiner verfasster Spruch mit sechs Zeilen steht. Die Sprüche verbinden jahreszeitliche Kräfte mit menschlicher Seelenbewegung und dürfen geistig-rational und/oder meditativ bewegt werden.

Manchmal findet Ihr in meinen Wochenenden in Bildern einen Spruch aus dem anthroposophischen Seelenkalender. Sich meditativ mit der Bedeutung eines Wochenspruchs aus dem anthroposophischen Seelenkalender zu beschäftigen, ist reine Anthroposophie. Dies hier als Hinweis, falls Ihr Euch dafür interessiert. In anthroposophischen Einrichtungen, die es in größeren Städten gibt, findet man zahlreiche Kurse und Möglichkeiten, sich mit anthroposophischen Fragen und Themen zu beschäftigen.

Warum das Leben im Jahresrhythmus Kindern gut tut

Abgesehen von der Bedeutung, die die Jahreszeiten auf den Prozess einer anthroposophisch inspirierten Selbstentwicklung haben können, tut das Wiederkehren von jahreszeitlichen Rhythmen und das Beschäftigen mit jahreszeitlichen Themen Kindern (und Erwachsenen!) einfach gut.

Jahreszeitliche Feste und Rituale hinterlassen in der Seele schöne, starke Bilder. Sie schenken Kindern und Erwachsenen Zuversicht, Stärke, Sicherheit, Hoffnung, Freude und Frohsinn. Außerdem schenkt das immer wiederkehrende Erleben des Jahreslaufs Menschen die Gewissheit, dass das Leben weitergeht, dass der natürliche Kreislauf sich immer wiederholt. Das ist in unserer chaotischen Welt besonders für Kinder unendlich wertvoll und tröstlich.

Das Leben im Jahreskreis ermöglicht Kindern außerdem ganz unbewusst und un-intellektuell eine zeitliche Orientierung: “Nach dem Drachenfest kommt das Laternenfest, dann Nikolaus und Weihnachten… und im neuen Jahr kommt erst Dreikönig, dann Fasching, dann Ostern und Pfingsten…. und dann ist Sommer!”

— Der Artikel ist noch in Arbeit und wird nach und nach weiter geschrieben. Ab hier ist alles noch provisorisch und unvollendet. —

Die Feste im waldörflichen Jahreslauf

Traditionell werden in Waldorfeinrichtungen mindestens acht Jahresfeste gefeiert, manche kleiner und manche größer. Diese Feste tragen nicht nur die christliche Bedeutung in sich, sondern verweisen zusätzlich oft auf uralte “heidnischen” Traditionen und alte Mythen der europäischen Kultur. Darauf basieren ja letztlich auch die christlichen Feste.

“Waldorf” macht für Kinder den tiefen geistigen Gehalt dieser Feste auf sinnliche Weise fass- und erlebbar, ohne die Kinder dabei intellektuell anzusprechen oder verbal zu belehren.

Hier für Neugierige ein Artikel zu den Jahresfesten an der Waldorfschule, hier ein schöner Artikel zum Jahreskreis im Waldorfkindergarten.

Typische Jahresfeste in Waldorfeinrichtungen

Oben ein Überblick über die wichtigsten Feste im Jahreskreis an Waldorfeinrichtungen.

Zu den Festen plane ich im Lauf der Zeit eigene ausführliche Artikel, hier vorerst nur ein Überblick:

  • Januar: Dreikönige – die “königliche” Seele, das Goldene im Menschen
  • Februar: Lichtmess – es wird heller, der Frühling macht sich langsam auf den Weg
  • Februar: Fasching – Narrenfest, sich gehen lassen dürfen, andere Rollen ausprobieren, Spiel und Spaß
  • März/April: Ostern – Frühlingsanfang, Geburt des Lebens / des Guten
  • April/Mai: Frühlings- und/oder Blütenfest – Feier des Lebens, des Männlichen und des Weiblichen, Wachstumskraft der Natur
  • Mai/Juni: Pfingsten – Chance auf das Gute im Menschen und im Leben
  • Juni: Johanni – Erneuerung und Lichtkraft, Wachstum
  • Juli/August: Sommerfest(e) – Feier von Ernte, Brot, Reife, Wärme und Licht
  • September: Michaeli – Drachenfest, Mutfest
  • September/Oktober: Erntedank – Freude über die Früchte der Natur
  • Oktober: Halloween / Allerheiligen – Ahnen- und Totenfest
  • November: St. Martin (Laternenfest) – Licht im Dunkeln
  • Dezember: Nikolaus
  • Dezember: Advent – das Licht macht sich auf den Weg, Hoffnung auf das Gute
  • Dezember: Weihnachten – Lichterfest, das Gute / das Licht wird wiedergeboren
  • Dezember/Januar: Rauhnächte – Nachdenken, Kraft und Erneuerung in der tiefsten Dunkelheit
  • Dezember/Januar: Silvester / Jahreswechsel / Neujahr – Neubeginn und Hoffnung

Die Räume jahreszeitlich gestalten

  • Der Jahreszeitentisch: Die Natur ins Haus holen, die Energie der Jahreszeit symbolisch darstellen, damit auch drinnen interagieren/spielen
  • Räume dekorieren – weitere Möglichkeiten: Tischvase, Tischdekoration, Fenster-Deko, Ast über dem Tisch, Mobiles an der Decke/vor dem Fenster, Wandschmuck,…
  • Postkarten und Jahreszeitenbilder in natürlichen Ständern
  • Kerzen, Tücher, Jahreszeitenpüppchen
  • Für Feste dekorieren

Typische Tätigkeiten der Jahreszeit

  • Sich am bäuerlichen Jahreslauf (bäuerlichen Traditionen/Bräuchen) orientieren
  • Jahreszeitliche Rezepte kochen und backen
  • Die Natur der Jahreszeit wahrnehmen und genießen
  • In der Natur jahreszeitentypische Pflanzen, Kräuter und andere Dinge sammeln
  • Basteln und Handwerken mit Naturmaterialien
  • Spazieren gehen, typische Ausflüge
  • Typische Geschichten erzählen, Bücher lesen, Lieder singen, Gedichte und Handgestenspiele

Wie genau Du Feste und Kräfte der Natur in den einzelnen Monaten zelebrierst, findest Du in eigenen Beiträgen zu den Monaten.

Bis jetzt gibt es folgende Beiträge:

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