Dieses Wochenende war ich ohne Mann und Kinder in Stuttgart bei meiner Mama. Es war ein Wochenende unter Geschwistern: Mein einer Bruder, der eigentlich auch in Berlin lebt, ist Opernregisseur und hatte am Samstag eine Premiere an der jungen Opernbühne der Staatsoper Stuttgart. Und mein zweiter Bruder war auch da. Das war sehr, sehr schön, denn wir hatten schon lange keine Zeit mehr zu dritt. Wir stehen uns nämlich sehr nahe und das hat uns lange schon gefehlt.
Weil überall die Rosen blühen und die Premiere mit einer total schönen Party gefeiert wurde, ist mir der Satz „Die Rose lädt zum Fest“ aus diesem Gedicht ins Auge gesprungen:
Quelle: Tagebuch der Edith Holden.
Samstag, der 18. Juni 2022
Mein älterer Bruder und ich schlendern über den idyllischen Wochenmarkt in Stuttgart-Degerloch, kaufen das eine oder andere und freuen uns an Erinnerungen. Wir sind hier ja aufgewachsen.
Die Qualität der Lebensmittel ist hier um einiges besser als in der Region Berlin. Es ist halt der fruchtbare Süden.
Solche dicken, frischen Salate sucht man in Berlin vergeblich.
Mein Bruder vor unserer Grundschule.
Ich helfe meinem Bruder, Karten für seine Premieren-Geschenke zu basteln. Es ist Tradition, seinen Kollegen zur Premiere eine Kleinigkeit zu schenken. Wir haben schon auf dem Markt und in den Degerlocher Geschäften kulinarische Köstlichkeiten für die Kollegen gekauft. Dazu schreibt mein Bruder jetzt an alle persönliche Karten.
Es war eine sehr intensive Probenzeit, weil diese moderne Oper musikalisch wahnsinnig schwierig und laut Menschen aus der Opernleitung „eigentlich nicht inszenierbar“ war. Mein Bruder hat zusammen mit seinem Bühnenbildner, seiner Kostümfrau und den Sängerinnen eine echte Meisterleistung vollbracht, nämlich aus dem „uninszenierbaren Stück“ ein unterhaltsames, kurzweiliges Stück mit unheimlich vielen thematischen Facetten gemacht.
Da möchte er sich natürlich für die tolle, kreative Zusammenarbeit bedanken. Es war etwas ganz Besonderes, was da in Gemeinschaft entwickelt wurde.
Hier die Seiten mit den Probe-Stempeln für die Karten. Denn jede Mohnkapsel erzeugt eine andere Form, manchmal auch abhängig davon, wie fest man aufdrückt.
Wir stempeln passend zum Thema der Oper Schlangen auf die Karten. Die Oper (Titel: „Melusine oder Was machst Du am Samstag?“) behandelt den mittelalterlichen Melusine-Mythos. Die schöne Melusine wird aufgrund eines Fluches einmal pro Woche, am Samstag, mit der unteren Körperhälfte zu einer Schlange. Das muss aber ein Geheimnis bleiben. Ihr Ehemann hat versprochen, seiner Frau ihr Geheimnis zu lassen und nicht nachzuforschen, was sie am Samstag macht. Melusine wiederum deckt ein Geheimnis ihres Mannes – er hat versehentlich einen Mord begangen. Doch es kommt natürlich, wie es kommen muss: Mann kann’s nicht lassen, schaut durchs Schlüsselloch des Badezimmers und bricht damit das „Betrachtungsverbot“. Als ihr Geheimnis an die Öffentlichkeit gerät, wird Melusine zum Drachen, fliegt davon und ward nimmer gesehen. Der Hauptteil des Mythos handelt dann von den 10 Söhnen des Paars und deren ruhmreichen Tätigkeiten als Könige.
In der Inszenierung geht es aber um viel mehr als um diese mythische Handlung. Es geht um Identität, um Geheimnisse, um das Recht auf Geheimnisse und diverse Rollen. Es geht um Frauen, die sein möchten, was und wie sie sind. Die vielfältige Rollen in der Gesellschaft und mit anderen Menschen annehmen. Die nicht immer und zu jeder Zeit die gleichen sind. Die sich immer wieder häuten und weiter entwickeln wollen. Es geht um Menschen, die Freiraum (und Geheimnisse!) in einer Beziehung haben wollen. Es geht um nicht mehr eindeutig zu bestimmende Geschlechterrollen (bist Du Mensch oder Schlange? Mann oder Weib?), und die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Und es geht um Frauen, denen die Stimme genommen wird. Die verstummen müssen, weil andere (oft Männer) die Sprache ergreifen. Und um noch viel mehr.
Außer Schlangen stempele ich auch Blumenwiesen, aber die nehme ich mit nach Hause.
Nach einem erfüllten, tätigkeitsreichen Vormittag mit viel geschwisterlicher Innigkeit serviert unsere Mama draußen im Garten ein göttliches selbst gemachtes Vitello Tonnato. Dazu gibt es das aromatische Ciabatta, das mein Bruder gestern gebacken hat. Mein Bruder ist nämlich nicht nur ein fantastischer Opernregisseur, sondern auch ein großartiger Bäcker. Schwester stolz!
Meine Mama bei 34°C im Rosensteinpark. Wir sind schon zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn ins Opernhaus der jungen Oper Stuttgart gefahren und gehen noch spazieren, bevor es losgeht. Der Park ist vollkommen leer. Ganz Stuttgart ist bei dieser Hitze wohl im Schwimmbad oder sonstwo.
Hier sehen Kundige den Stuttgarter Fernsehturm.
Das ist mein anderer Bruder im Foyer der jungen Oper. Er wird bei der Premierenparty auflegen. Das hat er früher oft gemacht. Jetzt ist er nur in Ausnahmefällen als DJ tätig – und wenn er lieb von seinen Geschwistern oder Freund*innen gebeten wird 🙂 Er macht das nämlich ganz außergewöhnlich gut. Er bringt jede Meute zum Tanzen.
Der Kronleuchter im Foyer.
Meine Mutter spielt mit den „Identitätskarten“, die im Foyer aufgehängt sind und zum Spielen einladen. Mama setzt „richtig“ zusammen, was eigentlich kreuz und quer zusammengepuzzelt gehört – oder nicht?? Das ist hier die Frage! — Alle Bilder zeigen die Sängerinnen in Kostümen aus dem Stück.
Die erste Szene.
Melusine im Bade. Mit einem Fischschwanz bewegt sich’s schwer fort. Melusine braucht eine Gehhilfe, um zum Bad zu kommen.
Die drei Melusinen beim Applaus. Alle drei Singstimmen (Sopran, Mezzosopran und Alt) spielen die Melusine. Sind sie drei Teile einer Persönlichkeit? Oder sind es drei Interpretationen einer Figur? Das sind so Fragen, die hier wichtiger sind als die Antworten.
Tanzen bei der Premierenparty.
Wir kommen nach der wunderschönen Premierenparty ziemlich geschafft gegen 1 Uhr nachts nach Hause zu meiner Mama auf der anderen Seite der Stadt. Mama schläft schon lange. Es ist noch warm. Wir setzen uns noch in den Garten, trinken Kräutertee, essen selbstgebackenes Brot und lesen die Karten der Kollegen, die vor Dank und Lob an meinen Bruder überquellen. Und wir reden. Über das großartige Stück und die Geschichten hinter der Arbeit, über die Mitwirkenden, über Gott und die Welt. Wir kichern, erzählen und haben endlich mal wieder Geschwisterzeit wie früher. Hach, das hat mir so gefehlt. Meine Brüder gehören zu den mit Abstand wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Sonntag, der 19. Juni 2022
Viel Earl Grey Tee mit Milch bringt mich nach 4 Stunden Schlaf wieder auf die Beine.
Der Garten meiner Mama ist schattig und schön. Heute genau das Richtige.
Mamas Hortensien.
Mamas Rosen.
Wir holen Laugenbrezeln beim Bäcker und machen einen Abstecher in den kleinen Laden meiner Mutter. Sie verkauft dort schöne Dekorations- uns Einrichtungsartikel. Ich liebe den winzigen Laden, in dem es nur schöne Dinge gibt.
Diese Puppe habe ich für das schöne alte Puppenbett genäht, das meine Mutter irgendwo gefunden hat.
Mama macht uns leckeres „Veschberle“ (= Vesper = Reiseproviant), und dann ist schon wieder Zeit abzureisen. Mein älterer Bruder und ich fahren mit dem ICE zusammen nach Berlin, der jüngere bleibt noch einen Tag bei Mama.
Wir alle haben das Wochenende zu viert sehr genossen. Es war ein bisschen wie früher und sehr, sehr schön. Und wir alle sind wahnsinnig stolz auf meinen Bruder und seine gelungene Inszenierung. Auf der Zugfahrt lesen wir die erste (sehr gute) Kritik in der Stuttgarter Zeitung. In der ZEIT am Donnerstag wird auch etwas erscheinen.
Und ein Tipp für alle Stuttgarter Leser*innen: Schaut Euch dieses Stück an! Es ist echt etwas Besonderes, äußerst kurzweilig und visuell spannend. Das ist zeitgenössische Oper, wie sie sein sollte – sie geht uns etwas an und behandelt Themen am Zahn der Zeit. Und es dauert nur 65-70 Minuten. Das ist auch mal was Gutes bei einer Oper 🙂
So, jetzt schließe ich sehr müde diesen Beitrag und gehe nach diesem erfüllenden Wochenende in meine Heia.
Deine Maike
Die Wochenenden in Bildern von anderen Blogger*innen findest Du hier, bei Große Köpfe.
Diese handgemachten Puppen kann man aktuell in meinem Shop kaufen. Es sind große Waldorfpuppen zwischen 43 und 53 cm mit tollen Outfits:
Wow! Das klingt nach einem rundum gelungenen Wochenende.
Und ich spüre in jeder Zeile, wie sehr du deine Familie magst und schätzt.
Schwäbelst du denn auch?
Veschberle klingt sehr niedlich
Ich als Schwäbin kenne das natürlich – das -le als Verniedlichung.
Ganz liebe Grüße, Steffi
Ich schwäbele nicht (mehr), seit ich mit 14 aufs Internat gegangen bin. Aber wenn ich eine Weile wieder in Stuttgart bin, schleicht es sich wieder ein bisschen ein. Eher so als Färbung, würde ich sagen. Mir hat sogar mal jemand gesagt, dass in meinem Deutsch sowohl ein ganz leichter Berliner als auch ein schwäbischer Akzent zu hören sind :-))) Soweit ich weiß, hört man mir die schwäbische Herkunft aber nicht wirklich an. Aber ich KANN schwäbeln, wenn auch wir in der Familie nie stark geschwäbelt haben. Mein Vater stammte aus Hamburg, meine Mutter aus Südbaden. Aber man beherrscht natürlich zwangsläufig den Dialekt des Ortes, wo man aufgewachsen ist, nicht wahr?
Tschüssle ond dange, gell? 🙂
Deine Maike